Aufzeichnung eines nächtlichen Spaziergangs
Moritz 1. Juni 2018
Lissabon hat auch nachts ein paar Überraschungen parat, sogar oder vor allem dann, wenn man nachts durch die Straßen wandert. Manchmal werden diese Überraschungen als so überwältigend aufgefasst, dass man das Bedürfnis hat, sie gleich festzuhalten. Egal wie spät es gerade ist.
Ich war gerade von einem Konzert heimgekommen, das dringend das Attribut „klein“ benötigt, allerdings bloß wegen des Ambientes; es hatte in einer auf sympathische Weise knapp dimensionierten Bar stattgefunden.
Ich ging zu Fuß heim. Jener Freund, mit dem ich das Konzert besucht hatte, hatte mir den Weg gezeigt, das heißt, er begleitete mich etwa bis zur Hälfte, und das, obwohl das Studierendenheim, in dem er wohnt, nur zehn Minuten von jener Bar entfernt liegt, befinden sich doch beide Orten in der Nähe der Lissabonner Metrostation São Sebastião – deren Name natürlich nichts mit den Ortsteilen von Lagos oder Loulé an der Algarve zu tun hat (die beschauliche Altstadt von Lagos ist die ehemals eigenständige Gemeinde São Sebastião). Der Freund, nennen wir ihn D., kennt sich in Lissabon besser aus als ich, der, immer noch, hauptsächlich im touristischen Zentrum gut orientiert ist. Das liegt im Wesentlichen vermutlich daran, dass ich, im Gegensatz zu ihm, ,erst‘ seit zwei Monaten direkt in Lissabon wohne. So darf ich ohne Zynismus feststellen, dass diese Stadt weiterhin Überraschungen bereithält.
D. brachte mich bis kurz nach dem Parque Eduardo, einem Park, der sich, vom Zentrum der Stadt gesehen, hinter der Statue des Marquês de Pombal emporhebt, jenes portugiesischen Staatsmannes vom 18. Jahrhundert, dessen Bilanz über die Modernisierungsmaßnahmen für Portugal zwiespältig ausfällt. Dank D. hatte ich das Vergnügen, vom vielleicht höchsten Punkt des Parks in Richtung des Zentrums der Stadt und in Richtung des Flusses blicken zu können. Schön; und dass der Blick diese doch recht simple Zuschreibung bekommt, verdankt er zwei Tatsachen: Erstens hat Lissabon eine ganze Menge Orte mit lieblicher Aussicht; zweitens mögen die Bürogebäude rund um den Marquês spektakulär sein, den Anreiz des Flusses Tejo oder der alten portugiesischen Wohnhäuser überbieten sie aber nicht. (Zu nennen wäre etwa der von Menschen mit touristischem Hintergrund kaum frequentierte hochgelegene kleine Park in – ja, Lavra hieß der Bezirk –, der, für mich, etwas Subalternes innehat.) Jedenfalls ging D. mit mir noch eine Querstraße weiter. An einer Kreuzung, von der eine Straße zu den Hochhäusern von Amoreiras führt, verabschiedete er sich, nicht ohne mir eine korrekte, aber, wie sich später herausstellen sollte, für meine Bedürfnisse ungenaue Beschreibung meines verbleibendes Weges zu geben (erst jetzt fällt mir ein, dass er meinen genauen Wohnort ja gar nicht kennt!).
Statt also die Straße entlangzugehen, die er mir vorsichtig und vielleicht ohne sich selbst dessen bewusst zu sein empfahl, bog ich nach links ab, Richtung Rato, wo die gleichnamige Metrostation liegt, von der es, wenigstens nach Lissabonner Maßstäben für öffentliche Verkehrsmittel, nicht mehr allzu weit zu meiner Wohnung ist, und damit nicht zu Amoreiras hin, das westlich von meinem Standpunkt lag. (An der portugiesischen Sprache interessierten sei gesagt, Rato bedeutet Ratte oder Maus, Amoreiras Maulbeerbäume.)
Und was fand ich? Ich fand heraus – mehr im Sinne von „ich entdeckte“ als „ich fand mich zurecht“. Ich verlief mich nicht, doch ich ging Wege, die nicht hätten begangen werden müssen. Lissabon ist nicht groß; kleiner als, zum Beispiel, Wien. Es eignet sich trotz der Hügel zum Zufußgehen. Und genau darum ist es auch wieder groß. Ich wähnte mich weiter westlich als ich tatsächlich war. Nicht einmal jetzt, nachdem ich die Eindrücke des Spaziergangs niedergeschrieben habe, könnte ich die Wege exakt beschreiben, die ich beschritten habe (auch eine Stunde später hätte ich das nicht tun können); aber ich würde sie wiederfinden. Es tauchten Gebäude auf, die ich doch woanders vermutet hätte. Straßen, Abzweigungen, Kreuzungen befanden sich nicht dort, wo ich sie erhofft oder gar im Gedächtnis behalten zu haben gemeint hatte; dabei gab es oft nichts zu erinnern, weil ich die nötige Erfahrung gar nie gemacht hatte. Einmal wandte ich den Kopf nach links, hügelabwärts, und war höchst erstaunt, fast schockiert, am Ende der Straße die Statue des Marquês vorzufinden. Beinahe wäre ich auf der Straße stehengeblieben – was aber in Anbetracht der Uhrzeit nicht so schlimm gewesen wäre. Rato und Marquês Pombal sind zwar benachbarte Stationen auf der gelben Metrolinie, aber zu Fuß doch nicht zu knapp beieinander: Nach meinen Berechnungen sollte ich doch vom Einkaufszentrum Amoreiras gerade hinuntergehen müssen!
So schritt ich also wieder auf dieses Hochhaus, das gelegentlich, sehr gelegentlich, zwischen anderen Häusern auftauchte, zu, vermutete es zumindest. Zu sehr durfte ich jedoch nicht darauf zugehen. Nun, die Stadtplanung von ehemals verlangte großen Orientierungssinn von mir. So passierte ich etwa eine Brücke, von der ich auch mithilfe der bekanntesten Software für Landkarten nicht sagen könnte, ob es sich bei ihr um den Ausläufer des Aqueduto das Águas Livres aus dem 19. Jahrhundert handelt, des Aquädukts des freien Wassers, ich passierte ihren Bogen, den ich zu einer Zeit, zu der ich noch in Almada, jenseits des Tejo, wohnte, schon einmal unterschritten hatte, und tadelte mich, dass ich dieses Bauwerk schon vergessen hatte – das war etwas, woran ich mich hätte erinnern können! (Beinahe hochwissenschaftliche Recherchen haben ergeben, dass das Aquädukt, das im 18. Jahrhundert gebaut worden und seit den 60er Jahren nicht mehr in Betrieb ist, teilweise abgerissen wurde, sodass das auf dem Spaziergang nicht angetroffene Reservoir, das einen Endpunkt der Vorrichtung bildete, vom restlichen Aquädukt getrennt ist.) Immerhin erfuhr ich so, wie ich nicht nach Rato ging. Das hieß, rechts abzubiegen. In der Tat befanden sich Stiegen zu meiner Rechten. Sie führten an einer Sportanlage und einem Parkhaus vorbei. Ich erhoffte mir, dass sie danach die Möglichkeit boten, mich nach links zu wenden. Doch sie führten hinauf. Hinauf, nach rechts und wieder hinauf. Endlich ging es nach links, in die Rua C., deren Name mir bekannt vorkam. Ich wusste auch bald, woher: Eine Busstation nahe meiner Wohnung hieß so. Wofür hatte ich also diese Meter und Minuten hinter mich gebracht? Doch nur um an einem Ort aufzutauchen, den ich bereits gut genug kannte! Stattdessen hatte ich erwartet, den Anfang meiner Gasse, den Ursprung der Rua S. zu finden – oder sie von einer neuen Seite anzugehen. Doch dafür hatte ich mich bereits beim Abschied von D. falsch entschieden.
Ich bereue freilich nichts, im Gegenteil, ich freue mich über diese Erkundung des nächtens. Denn ich kennen diese Stadt noch lange nicht gut genug. (Aber wann tut man das schon?)
Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Tagebucheintrags. Aus nachvollziehbaren Gründen wurden Straßen- und Personennamen anonymisiert.